Michael Roelle ist Psychologe und war lange stellvertretender Leiter der Schulpsychologischen Beratungsstelle im Amt für Schule und Weiterbildung der Stadt Münster. In dieser Rolle hat er umfassende Erfahrungen in der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften sowie Eltern gesammelt. Er setzte sich für die Entwicklung individueller Hilfsangebote ein, um das Wohlbefinden und die schulischen Chancen der Kinder zu fördern. Sein Engagement erstreckt sich über zahlreiche Projekte und aktive Mitgestaltung von Maßnahmen. Durch seine langjährige Tätigkeit hat Michael nicht nur Fachwissen und Expertise in der Schulpsychologie, sondern auch eine tiefe Sensibilität für die Herausforderungen und Bedürfnisse von Schüler*innen und deren Familien entwickelt. Michael Roelle setzt sich auch heute weiterhin für eine Verbesserung der Bildungsbedingungen und eine stärkere Unterstützung für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein.
Michael, wie kann die schulische Bildung Deiner Meinung nach dazu beitragen, das Bewusstsein für demokratische Werte bei jungen Menschen zu stärken?
Erst einmal ist es wichtig zu klären, was Demokratie ausmacht: Freiheit, Gleichheit und die Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Diese Konzepte müssen im Schulalltag verankert sein. Die Umsetzung hängt stark vom Schulprofil, dem pädagogischen Konzept, der Schulkultur und dem Leitbild der jeweiligen Schule ab.
Wenn wir von einem Schulprofil ausgehen, das sich demokratischen Werten verpflichtet fühlt, stellt sich die Frage, wie Demokratie tatsächlich gelebt wird. Welches Rollenverständnis haben die Schulleitung und die Lehrkräfte? Wofür wollen sie Vorbilder sein, und welches Selbstverständnis sowie Beziehungsangebot – sowohl zu den Schülerinnen als auch zu den Kollegen – ist damit verbunden? Demokratische Werte dürfen nicht nur Lippenbekenntnisse sein; sie müssen aktiv und authentisch gelebt werden.
Ein zentraler Aspekt in diesem Kontext ist die „Beteiligung“. Im Schulsystem gibt es zahlreiche Ebenen, auf denen Demokratie zum Ausdruck kommen kann. Ein Beispiel dafür sind die Klassensprecher und Schulsprecher, die ein Modell für repräsentative Demokratie darstellen. Dieses Modell funktioniert allerdings nur, wenn die Lehrkräfte es als bedeutendes Element einführen und ernst nehmen. Findet eine geheime Wahl statt? Wie kommen die Bewerbeungen zustande, und wer wird letztlich gewählt? Der gesamte Prozess muss transparent und respektvoll moderiert werden. Vielleicht ist die Wahl des Klassensprechers für viele Kinder die erste Erfahrung mit einem demokratischen Prozess und dem Bewusstsein, welche Bedeutung diesem zukommt. Es gibt zahlreiche weitere Aspekte, die sich hier ableiten lassen, wie die Auswertung von Erfahrungen und Nachbesserungen.
Ein weiteres Beispiel ist die Elternpflegschaft. Ist sie lediglich eine lästige Formalie oder kann sie als Ausdruck einer Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Lehrern betrachtet werden? Hier stellt sich auch die Frage, wo die Eltern an diesen Treffen teilnehmen: Sitzen sie in den Schulbänken, möglicherweise auf dem Platz ihres eigenen Kindes, oder in einer Runde im Konferenzzimmer der Lehrer oder sogar in einer Kneipe? Auch wenn dies scheinbar unwesentlich erscheint, sendet es doch ein Signal über die Rolle und die Beziehung zwischen Lehrern und Eltern. Wie wird der Vorsitzende der Elternpflegschaft gewählt? Gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Informations-, Diskussions- und Entscheidungsphasen? Wie wird die Kooperation gestaltet? Gibt es einen fairen Austausch, werden Kompromisse angestrebt? Letztlich spiegelt die Art und Weise, wie diese Prozesse ablaufen, das Klima und das Profil einer Schule wider und hat einen erheblichen Einfluss auf deren Entwicklung.
Wenn wir uns den Klassen-, Kollegiums- und Schulkonferenzen zuwenden, sehen wir ähnliche Prinzipien. Gibt es eine streng hierarchische Ordnung oder eine partnerorientierte, kollegiale Beziehung? Wie kommen gemeinsame Entscheidungen zustande, und wie wird mit Konflikten umgegangen? Auch hier spielt die Einbeziehung der Schülerinnen eine zentrale Rolle. Die Art und Weise, wie mit diesen Gremien und Ebenen umgegangen wird, beeinflusst maßgeblich das Klima einer Schule und damit auch den Stellenwert demokratischen Lebens in dieser.
Eine Schule ist ein lebendiger Organismus, der sich ständig neuen Herausforderungen stellen muss und auf gesellschaftlich relevante Problemstellungen neue Antworten finden muss. Man könnte sagen, die Schule ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Dies erfordert einen kontinuierlichen Evaluationsprozess, der die Mitarbeit aller Beteiligten – Schüler, Lehrer, Eltern, pädagogisches Personal, Hausmeister, Schulaufsicht und Schulträger – einschließt. Entwicklung ist nie abgeschlossen; sie benötigt regelmäßige Analysen, Auswertungen, Bewertungen, Nachbesserungen sowie angepasste Handlungsstrategien. Das Leben demokratischer Werte in der Schule entspricht im Grunde den Anforderungen, die die Gesellschaft insgesamt erfüllen muss.
Welche Rolle spielt die Fähigkeit, Informationen kritisch zu hinterfragen und Fakten zu checken, für eine funktionierende Demokratie?
In der heutigen Zeit ist diese Fähigkeit von extrem wichtiger Bedeutung. Fake News werden gezielt verbreitet, um Interessen auf staatlicher, unternehmerischer oder ideologischer Ebene durchzusetzen. Um nicht in Verwirrung zu geraten oder an Widersprüchlichkeiten zu zerbrechen, wird die Fähigkeit, Informationen kritisch zu hinterfragen, immer zentraler. Doch wie erwirbt man diese Fähigkeit? Wer kann sie vermitteln, und welche Kompetenzen sind gefragt? Lehrer werden oft schnell sagen: „Was soll ich denn noch alles leisten?“ und aus ihrer Sicht haben sie damit auch nicht Unrecht.
Hier ist eine aktualisierte Lehrerfortbildung von Bedeutung. Vermutlich gibt es bereits entsprechende Angebote, aber ich, der vor 15 Jahren in den Ruhestand ging, bin da nicht mehr im Bilde. Eine Internetrecherche zeigt, dass für kritisches Denken verschiedene Schritte vorgeschlagen werden: das Problem identifizieren, recherchieren, Datenrelevanz bestimmen, Fragen stellen, die beste Lösung ermitteln, diese Lösung präsentieren und schließlich die Entscheidung analysieren. Das klingt gut, muss jedoch systematisch und ernsthaft trainiert werden. Die Bedeutung des Faktenchecks muss ernst genommen werden – letztlich geht es um die Grundlage unserer Demokratie. Diese Feststellung mag etwas pathetisch klingen, lässt sich jedoch leicht an den Veränderungen in unserer politischen Landschaft nachvollziehen.
Wie können Schulen konkret dazu beitragen, Schüler*innen in dieser Kompetenz zu schulen und ihnen beizubringen, Desinformationen zu erkennen?
Basal ist es wichtig, dass Schüler sowohl ihre eigene Meinung entwickeln und vertreten als auch Empathie zeigen und Widersprüche identifizieren können. Diese Fähigkeiten sollten im Unterricht nicht als Ausnahme, sondern als Garant für einen fairen Umgang miteinander und die Weiterentwicklung von Inhalten und Themen gelebt werden.
Was ist die Verantwortung von Familien und dem sozialen Umfeld, wenn es darum geht, demokratische Werte zu vermitteln?
Das Wichtigste bleibt das Modell eines fairen Umgangs miteinander, der von Respekt, Akzeptanz und Toleranz geprägt ist – sowohl in der Familie als auch im sozialen Umfeld. Es ist entscheidend, dass Konflikte nicht ausgeschlossen werden, da sie notwendig sind, um Entwicklung zu sichern. Sie müssen jedoch auf einer partnerschaftlichen Basis gelöst werden. Die Betrachtung der „kleinen Einheit“ Familie dient als prototypisches Beispiel dafür, wie der Einzelne sich in der Gesellschaft und auf politischer Ebene bewegt.
Hast Du das Gefühl, dass sich das Verständnis und die Bedeutung von Demokratie in den letzten Jahrzehnten verändert haben? Wenn ja, wie erlebst Du das – als Schulpsychologe und in deiner Role als Großvater?
Ich möchte etwas ausholen: Die Demokratiebewegung hat eine lange, bis in die Antike reichende Geschichte mit vielen Kapiteln und Entwicklungsschritten. In Deutschland können wir allerdings nur auf eine kurze Phase der Demokratie in der Weimarer Republik zurückblicken, die 1933 durch die Diktatur des Nazi-Regimes abgelöst wurde – und das aufgrund eines demokratischen Prozesses. Ab 1945 gab es unter der Regie der Westmächte in Westdeutschland zarte Versuche der Demokratisierung, die ihren Höhepunkt 1949 im Grundgesetz fanden. Aber lebten wir Deutschen ab da bereits in einer demokratischen Kultur? Ich glaube, dass dies in großen Teilen der Gesellschaft nicht der Fall war. Das ideologische Erbe des Dritten Reiches schwebte noch in den Köpfen vieler Bürger. Einige meiner Lehrer waren Kriegsteilnehmer und scheuten verständlicherweise eine Retraumatisierung.
Eine gesellschaftliche Aufarbeitung des Dritten Reiches und der Traumatisierung eines ganzen Volkes fand nicht statt. Der wirtschaftliche Aufschwung half, sich von der jüngeren Geschichte zu verabschieden, bis die Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und später die kriminellen Aktionen der Rote Armee Fraktion (RAF) gesellschaftliche Irritationen hervorriefen, aber nicht zu einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen führten. Ein weiterer großer Einschnitt war für mich die Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland. Unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie wurden nicht wirklich verhandelt, und unterschiedliche biografische Entwicklungen sowie kulturelle Unterschiede wurden größtenteils ignoriert. Ein gemeinsamer Prozess von „Corporate Identity“ auf Staatsebene fand nicht konsequent statt, und eine neue Spaltung war schon vorgezeichnet.
Und wie ist die Situation heute? Die Mehrheit der Bürger in Deutschland befürwortet, in einer Demokratie zu leben. Dennoch wenden sich viele von dem politischen System ab und orientieren sich paradoxerweise antidemokratischen Strömungen zu. Dass dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten wie Ungarn, Österreich, Italien, Frankreich, den Niederlanden und skandinavischen Ländern so ist, entbindet jeden einzelnen Bürger nicht von seiner Verantwortung für das Leben in der Gesellschaft. Die Gründe, die die Demokratie gefährden können, wurden in den letzten Jahren von Wissenschaftlern und Kommentatoren vielfach zusammengetragen.
Was löst das aus, und was ist zu tun? Als ehemaliger Schulpsychologe wünsche ich allen Schulen, sich weiter als „lernender Organismus“ zu verstehen. Den Lehrkräften wünsche ich, die Rollenvielfalt, mit der sie sich konfrontiert sehen – als Wissensvermittler, Lerncoaches, Moderatoren, Konfliktmanager und Beratungslehrer – angstfrei zu akzeptieren. Effektives Lernen findet unter der Bedingung positiver Beziehungen zu Lehrern und Mitschülern statt. Dazu gehört auch, dass Lehrkräfte die notwendigen Fortbildungsangebote erhalten, was natürlich auch Konsequenzen für die Personalschlüssel hat.
Und immer wieder die Forderungen der Kollegien: Stellt mehr Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen ein – zur Entlastung und Stärkung der Lehrerinnen und Lehrer, für die Stärkung der Schülerinnen, Schüler und Eltern. Seit Jahrzehnten wird von den Betroffenen und der Politik selbst gefordert, mehr in Bildung – als Garant für die Zukunft – zu investieren. Die Ergebnisse lassen auf sich warten.
Warten können auch nicht die vielen Schülerinnen und Schüler, die in zu großer Anzahl die Schule ohne Abschluss und somit oft auch ohne gute Perspektive verlassen. Diese Schüler brauchen, sobald der Bedarf auffällt, schnell intensive, individuelle und oft auch eine längerfristige pädagogische und/oder psychologische Hilfe und Begleitung, notwendigerweise in Kooperation mit der Familie und den Lehrern. Ja, das kostet Geld, zahlt sich aber auf der Ebene der individuellen Biografie und gesamtgesellschaftlich aus.
Wenn ich das so lese, was ich gerade schreibe, dann fällt mir auf, dass sich in den letzten 15 Jahren, die ich nun schon pensioniert bin, qualitativ nicht so viel verändert hat. Quantitativ schon: Das erhöhte Ausmaß an Migration stellt die Schulen vor größere Anforderungen. Die Entwicklung „neuer Medien“ – mit all den positiven wie gefährlichen Anteilen, z.B. Fake News – öffnet ein neues Arbeitsfeld, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, gerade auch in seiner Bedeutung der Sicherung der Demokratie!
Und als Opa? Wie erlebe ich da die Bedeutung von Demokratie, wenn ich meine Enkelkinder vor Augen habe? Eigentlich sehr optimistisch. Meine Enkelkinder sind überwiegend gerade in der „pubertären Phase“, in der die Eltern für die Kinder besonders problematisch sind. Sie entwickeln zunehmend ihre eigene Sicht von der Welt, sind sensibel für die zentralen Themen ihrer Zukunft: Die Themen Klima, Umwelt, Kriege sind im Fokus. Sie informieren sich – natürlich vorwiegend über das Internet – und akzeptieren Gespräche mit den Erwachsenen. Und immer wieder zentral: welches Modell geben wir Erwachsenen (Eltern, Lehrer, Großeltern …) für den Umgang mit Konflikten und Problemen ab?
Ich bin sicher, dass die heutige Jugend die Kompetenzen entwickeln kann, die notwendig sind, um mit einem Teil der Probleme, die uns heute belasten, gut umzugehen und zu Lösungen zu kommen. Aber sie braucht die notwendigen Rahmenbedingungen, die ihr das heutige politische System bereitstellen muss: Gute Bildung für alle als Schlüssel, um die “Herausforderung Demokratie” langfristig zu meistern und zu sichern.