Malte Krüger wurde 1968 in Schleswig-Holstein geboren und studierte in München Sprach- und Theaterwissenschaft sowie Politik. Er leitet mit zwei Partnern eine Privatschule in Neumünster. Dort unterrichtet Malte in der Erwachsenenbildung in den Fächern Rhetorik und Dialektik Politiker*innen, Ärzt*innen, Lehrende, Jurist*innen und Manager*innen. Für sein letztes Buch “Undercover in der Finanzindustrie“, das im FinanzBuch Verlag erschienen ist, hatte er ein Stipendium der Günter Wallraff-Stiftung erhalten. Malte Krüger lebt in Schleswig-Holstein und schreibt aktuell an seinem nächsten Buch.
Malte, wie bist Du zum Thema Rhetorik und dem Umgang mit populistischen Narrativen gekommen?
Ich bin zum Thema Rhetorik gekommen durch meine beiden wichtigsten Mentoren, die beide große Redner waren. Da ist zum einen mein Onkel Siegfried Krüger gewesen, ein Journalist, der aufgrund seines beruflichen Umgangs mit großen Politikern wie Willy Brandt und Helmut Schmidt sehr weltgewandt war. Deswegen konnte er auf jeder Rednerbühne bestehen. Zum anderen ist da mein Privatlehrer Ulrich Radtke, ein Universalgelehrter, der ein unerbittlicher Kampfredner war. Deshalb würde er, wenn er denn noch lebte, eine Alice Weidel mit seiner überragenden Bildung und seiner rhetorischen Raffinesse innerhalb von einer Minute bei lebendigem Leib auffressen. Sie hätte keine Chance. Keine. Beide Persönlichkeiten haben mich viele Jahre an die Wand geredet. Aber das war die beste Schule, die ich haben konnte.
Zum Thema AfD bin ich durch meinen Onkel gekommen, der ein überzeugter Antifaschist war. Dessen Vermächtnis möchte ich weitertragen. Auf seinem Sterbebett hat er mich darum gebeten, diesen antifaschistischen Kampf weiterzuführen mit Sätzen wie: „Uns hat man immer wieder gefragt, wie konntet Ihr nur“. Das war 2016, als er bereits die Rechtsradikalisierung in der Gesellschaft erkannte. Mein Onkel war in seiner Jugend als Mitglied der Hitler-Jugend ein überzeugter Nationalsozialist. Doch er hatte als Mitglied des letzten Aufgebots am Ende des 2. Weltkrieges ein Initiationserlebnis, das seine Umkehr einleitete. Als verhetzter Hitler-Junge hatte er sich in der Schule geweigert, Französisch zu lernen. Er begründete das vor seinem Lehrer mit dem Satz: „Warum soll ich Französisch lernen? In ein paar Jahren wird die ganze Welt Deutsch sprechen.“ Zu Hause bei seiner Mutter, meiner Großmutter, beschwerte er sich auch über den Lehrer: „Mama, warum soll ich Französisch lernen? Bald wird überall Deutsch gesprochen.“ Meine Großmutter war sehr religiös und Humanistin. Deshalb gab sie meinem Onkel links und rechts eine Ohrfeige. „Du lernst Französisch!“, ordnete sie an. Da meine Großmutter die Autorität in der Familie war, gehorchte mein Onkel. Zum Glück. Denn das rettete ihm das Leben, als er in den letzten Kriegstagen als Flugabwehrhelfer in Gefangenschaft der Roten Armee geriet. Dort war zufällig auch eine Französin in Gefangenschaft geraten. Deshalb suchten die sowjetischen Soldaten einen Dolmetscher, der Französisch konnte. Daraufhin meldete sich mein Onkel mit seinen Französischkenntnissen. Einige Tage später ist er mit dieser Französin, mit der sich verständigen konnte, zusammen geflohen. Dadurch hat mein Onkel gelernt, wie wichtig Bildung und Wissen sind, um extremistische Haltungen zu überwinden. Diese Erkenntnis hat er mit seinem Liberalismus fortan gelebt und an mich weitergereicht.
Was waren Stolpersteine und wichtige Erkenntnisse für dich?
Fachlich gab es keine Stolpersteine. Ich bin studierter Sprachwissenschaftler und arbeite als Rhetoriktrainer. Die AfD ist mit ihren Komplexitätsreduktionen und Lügen die Partei der geistigen Umweltverschmutzung. Da gibt es keinen Umdeutungsspielraum. Deshalb gilt es die Verbreitung dieser Unbildung und dieses Antiintellektualismus zu bekämpfen durch die Macht der Sprache. Denn Rhetorik ist das Mittel, um den öffentlichen Raum einer Demokratie auszufüllen. Im Moment wird dieser öffentliche Raum mehrheitlich von den Narrativen der AfD beherrscht. Das heißt, die AfD bestimmt größtenteils die Debatten. Das muss sich ändern.
Stolpersteine gab es eher organisatorisch. Denn die Arbeit an meinem Buch war ein reiner Alleingang. Organisationen wie die Antonio Amadeu Stiftung haben meine Anfragen wegen Unterstützung nur mit einem Arschrunzeln gewürdigt. Zudem klage ich die großen Verlage wegen ihrer Ignoranz und Mutlosigkeit an. Das heißt, diese Institutionen haben mit ihrer Haltung gezeigt, wie verlogen das politische Eintreten gegen rechts sein kann, nach dem Muster: Engagement gegen rechts ist zwar schön und gut, aber es darf nichts kosten.
Wie erkennen wir die rhetorischen Tricks von Rechtsextremen und Populisten – auch und besonders im Alltag?
Man erkennt sie durch Übung, weil sich ihr Gebrauch wiederholt. Dazu gehört zum Beispiel das Entweder-Oder-Prinzip. Dieses Prinzip ist eine dogmatische Setzung. Sie besteht darin, dass sich AfD-Politiker und ihre Anhänger als Angehörige einer Community von Erleuchteten betrachten. Damit legen sie die Frontlinie fest. Sie sind die Erleuchteten und Überblicker und der Rest der Welt ist gehirngewaschen. Daraus folgt die Haltung: Entweder stimmt man ihnen zu, oder man liegt falsch. Man liegt falsch, weil man gehirngewaschen ist. So sind AfDler und ihre Anhänger immer auf der richtigen Seite. Dieses Prinzip taucht in den Parlamenten auf genauso wie am Stammtisch oder in der Betriebskantine oder auf sozialen Plattformen. Die Anwendung des Entweder-Oder-Prinzips wiederholt sich derart oft, dass es nur noch langweilt.
Wie gehen wir im Büro, im Verein oder in der Familie am besten gegen populistische Aussagen vor?
Wir gehen am besten damit um, indem wir solche Aussagen immer wieder als das bloßstellen, was sie sind, nämlich Populismus. Wir müssen also durch unermüdliches Bloßstellen den Gesprächspartner dazu zwingen, sich mit der Komplexität der Sachverhalte wie die Migration, die Energiewende oder der Europapolitik auseinanderzusetzen. Dafür dürfen wir uns nicht darauf beschränken. aufzuzeigen, das, was ein AfDler glaubt, sei falsch, sondern wir müssen aufdecken, wohin dieser Glaube führt. Wohin führt es zum Beispiel in der multipolaren Weltordnung, wenn Deutschland aus der EU austritt? Wohin führt es, wenn wir die bevorstehende Klimawanderung ignorieren? Wohin führt es, wenn wir zulassen, dass Rassismus als eine gleichwertige Meinung gelten kann? Mit solchen Fragen muss man AfD-Anhänger festnageln. Damit untergräbt man gemäß dem subversiven Argumentieren die Ideologie der AfD und ihrer Anhänger. Dafür muss man die Diskurse kennen. Das ist mühsam. Aber anders geht es nicht.
Wie bleiben wir sachlich trotz hoher Emotionalität?
Sachlich bleiben wir mit einer gefestigten Position. Das ist harte Arbeit. Das heißt, wir müssen unseren Standpunkt viele Male durchgesprochen und durchdiskutiert haben. Die großen Redner haben diese Ochsentour auf sich genommen wie ein Heiner Geißler oder ein Günter Amendt. Denn nur mit einer gefestigten Position verhindern wir, dass unser Gesprächspartner oder besser gesagt unser Gesprächsgegner bestimmt, welche Gefühle wir haben. Wir verhindern, dass er in uns negative Gefühle wie Wut oder Zorn erweckt und damit uns kontrolliert. Empörung gegenüber der AfD ist meistens das Produkt einer ungefestigten Position. Sie ist also das Produkt von Schwäche. Diese Schwäche müssen wir in die Stärke einer gefestigten Position umwandeln. Dann behalten wir auch die Kontrolle über unsere Gefühle.
Was sollten wir vermeiden, wenn wir gegen solche Narrative argumentieren?
Wir sollten vermeiden, weniger zu wissen als ein AfDler oder ihre Anhänger. Das heißt, wir müssen die Kernnarrative der AfD auf jeden Fall auswendig können. Das sind folgende Kernerzählungen:
Wenn wir einem AfD-Anhänger diese Narrative um die Ohren hauen können und vielleicht bei drei Narrativen nachweisen können, wie sehr die einzelne Erzählung Bullshit darstellt, ist er meistens schon beeindruckt, weil das Detailwissen eines AfD-Anhängers gering ist. Die meisten AfD-Anhänger haben nicht einmal das Parteiprogramm gelesen. Hier ersetzt häufig die Aggressivität die Informiertheit.
Hast Du Beispiele, wie ich in konkreten Situationen (z.B. bei Diskussionen) erfolgreich argumentieren kann? Auch wenn ich eher introvertiert bin?
Häufig gibt es die Diskussion, ist die AfD nun rechtsradikal und antidemokratisch oder nicht, als ob das noch eine unbeantwortete Frage sei. Das ist sie vielleicht auf der Ebene eines Parteiverbotsverfahrens. Auf der Ebene der Sozialwissenschaften ist es das aber nicht.
Denn die AfD verbreitet unaufhörlich die Erzählung von einem vertrauten Wir, dem moralisch reinen und homogenen Volk, das bedroht wird von einem Fremden wie die angeblich moralisch verdorbene globalistische Elite, die Migranten als angeblich unaufhörliche Produzenten von Kriminalität, der angeblich mit der Demokratie unvereinbare Islam, die nicht-binäre Sexualität, die angeblich faulen Südeuropäer, das Bürokratiemonster aus Brüssel, der Ökosozialismus der grünen Kulturmarxisten, die angebliche Diktatur der Altparteien, das angebliche Übermaß eines Schuldkults, die patriarchalisch nicht unterworfenen Frauen und die angeblich nutzlosen Leistungsbezieher. Vor diesem Fremden müsste das Volk beschützt werden. In dieser Erzählung von der Gegnerschaft zwischen dem Vertrauten und dem Fremden ist alles enthalten: das völkische Denken, das sozialdarwinistische Denken, das nationalistische Denken, das antipluralistische Denken, das rassistische Denken und das geschichtsrevisionistische Denken, also alles was antidemokratisches rechtsradikales Denken ausmacht. Da können Tino Chrupalla und Alice Weidel noch 191mal erklären, die AfD stünde zum Grundgesetz. Nein, das tut sie mit dieser Erzählung nicht. Ende der Debatte.
Welche Methoden sind besonders effektiv, um sich auf solche Diskussionen vorzubereiten?
Zunächst braucht man vor allem Zeit, Nerven und Gefühle, um sich in das Thema einzuarbeiten. Das betrifft jedes Wissensfeld, in das man sich einarbeitet. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Aufwand er oder sie auf sich nehmen will. Ohne Vorbereitung geht es aber nicht. Denn eines steht fest: Bei den Diskussionen mit AfD-Ideologen sind die herkömmlichen Gesprächsregeln außer Kraft gesetzt. Es geht nicht darum, ein Übereinkommen zu erzielen. Einem AfD-Ideologen geht es um den Sieg. Er will vor seiner Anhängerschaft gut aussehen und das tut er, wenn er seine Gesprächsgegner wie zum Beispiel Angehörige der etablierten Parteien wie der Grünen in die Defensive bringt. Dann heißt es im Netz: Tino Chrupalla zerstört die Grünen, wenn er bei Hart aber fair der Grünen-Größe Katrin Göring-Eckardt vorhalten kann, die Grünen würden in Ostdeutschland keine Rolle mehr spielen und das sei gut so.
Auch bei einem Gespräch mit den meisten AfD-Anhängern geht es nicht um ein Übereinkommen. Den AfD-Anhängern geht es darum, sich als Opfer einer Diktatur darzustellen, als Opfer von Cancel Culture und von einem Meinungsterror, und wer das nicht genauso sieht, ist gehirngewaschen. Dabei berufen sich viele auf ihr Bauchgefühl oder den gesunden Menschenverstand. Das reicht als Nachweis, um sagen zu können, uns Medienkonsumenten werde vom Mainstream nicht die Wahrheit gesagt. Wozu noch abstrahieren oder differenzieren, wenn die AfD-Anhänger Figuren wie Gabriele Krone-Schmalz haben. Solche Meinungsmacher befreien die AfD-Anhänger aus diesem Dilemma, irgendetwas belegen oder differenzieren zu müssen. Gabriele Krone-Schmalz tut das, indem sie das putinfreundliche rechte Narrativ bedient: Zum Krieg in der Ukraine gebe es eine Vorgeschichte, die nur auf eine Art zu erzählen sei, nämlich dass Russland zur Notwehr gegriffen hätte und Schuld habe die NATO. Dass Russland auch ein wesentlicher Mitgestalter dieser Vorgeschichte gewesen ist, blendet dieses Narrativ aus. Krone-Schmalz bekommt Recht, allein schon weil sie ihre Stimme erhebt. Was sie zum Krieg in der Ukraine sagt, ist nicht mehr entscheidend. Es ist entscheidend, dass sie überhaupt etwas sagt, weil es die Antithese zum Mainstream ist. Damit wird die Antithese zum Selbstzweck. Ein dialektischer Blick und die Abwägung von Für und Wider und die daraus folgende Synthese kommen dadurch nicht zustande. Das ist nicht erwünscht. Um dieser Haltung etwas entgegen zu setzen, braucht man jede Menge Ausdauer. Denn jedes Argument scheint sinnlos zu sein, weil es gegen die Argumentlosigkeit des gesunden Menschenverstandes oder des Bauchgefühls nicht ankommt. Es geht also darum, mit umso größerer Ausdauer und Verbissenheit, sich diesen sich stets wiederholenden Mustern entgegenzustellen und sie bloßzustellen. So untergräbt und unterminiert man nach meiner Ansicht diese Methoden am wirkungsvollsten. Das heißt, man muss die Metakommunikation beherrschen. Man muss sachlich darüber sprechen können, wie der Gesprächspartner oder Gesprächsgegner spricht. Man muss also den Gesprächspartner oder Gesprächsgegner immer wieder dazu zwingen, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Wie können wir uns und andere weiterbilden im Kampf gegen populistische Rhetorik?
Wir müssen mindestens den gleichen Aufwand betreiben wie die Rechten ihn betrieben haben. Die Rechten und Rechtspopulisten haben sich vernetzt sowohl global als auch national. Die AfD ist mit dem Kreml vernetzt oder mit den Trumpisten in den USA. So ist es kein Wunder, dass die AfD russische Propaganda verbreitet und die Mythologie weiterträgt, Russland sei verhandlungsbereit, die westlichen Staaten wie Deutschland müssten sich nur mehr anstrengen mit ernst zu nehmenden Friedensinitiativen. So ist es ebenso wenig ein Wunder, dass AfD-Politiker wie Björn Höcke die Rhetorik von Donald Trump kopieren, indem er an das vermeintliche Volk appelliert, wenn er verfolgt werde, werde gleichzeitig das ganze Volk bekämpft. Es würde mich nicht wundern, wenn Höcke ähnlich wie Trump bald sagt: Wenn Ihr mich wählt, müsst Ihr bald gar nicht mehr wählen. Auch die Milieus der Anhänger der AfD in Deutschland sind untereinander auf den sozialen Plattformen vernetzt und versorgen sich gegenseitig mit Informationen und Propagandamaterial wie über die angebliche Weltverschwörung um den Pandemievertrag der WHO, bei der es angeblich darum gehen soll, eine faschistische Diktatur zu errichten. Diesen Aufwand der Vernetzung müssen die Demokraten auch betreiben. Sie müssen sich vernetzen und sich gegenseitig durch einen gezielten Austausch besser machen. Da besteht noch Nachholbedarf. Auch dafür habe ich mein Buch geschrieben. Zumal die Rechtsradikalen der AfD wiederholt Unterstützung bekommen durch Public Intellectuals wie Uwe Tellkamp, die deren Narrative wie das von der Meinungsdiktatur wortgewaltig bestätigen.
Wie siehst Du die zukünftige Entwicklung populistischer Rhetorik, und welche Maßnahmen sind besonders wichtig?
Ich fürchte, die tägliche Bullshit-Produktion der Rechtspopulisten wird nicht abnehmen. Im Gegenteil. Deshalb gilt es, besonders die Jugend zu schützen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die mit der Systemfrage zu tun hat. Die Schauspielerin Heike Makatsch sagte einmal in der Dokumentation Pop 2000: Die Jugend glaubt nicht mehr an das traditionelle Versprechen, sei fleißig und lerne viel und du kannst mit deinem Wissen später beruflich erfolgreich sein. Damit kommentierte sie den Trend, dass eine ganze Generation von jungen Menschen auf die Bühne der Castingshows und Soap Operas strebte, um für sich über ein paar Minuten oder Wochen Ruhm eine Abkürzung zum Erfolg zu finden. Über 20 Jahre später hat sich dieser Vertrauensverlust in der jetzigen Jugendkohorte im Zuge der vielen Krisen mit ihren Folgeschäden wie bei Corona weiter verfestigt. Diese Zukunftsängste nutzt die AfD für sich aus und fängt die Jugend mit ihren Abkürzungsangeboten ein – vor allem über die Plattform TikTok.
Auf dieser Selbstdarstellungsbühne zeigen Nutzer Kurzclips von Gesangseinlagen oder vom Kauf einer Currywurst und lassen sich liken und kommentieren. Meist völlig kontextlos gerade wegen der Kürze. Dort passt die AfD mit ihrem Populismus gut rein. So behauptet Alice Weidel, das Bürgergeld sei ein Einwanderungsmagnet für gewalttätige Geflüchtete. Die Lösung sei dafür die Ausländer-raus-Politik der AfD. Oder Maximilian Krah fordert Jungen auf, die AfD zu wählen, damit sie auch eine Freundin abbekommen. Das wird millionenfach geschaut und tausendfach gelikt viel mehr als die Clips der anderen Parteien.
Es wird zur Systemfrage, weil das Problem hausgemacht ist: Der Qualitätsverlust im Bildungssystem hat wesentlich dazu beigetragen, dass TikTok als Raum der Kontextlosigkeit zu einem beliebten Fluchtpunkt werden konnte. Es geht um die Flucht vor der Komplexität der vielen Krisen, weil die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken, schwindet. Kernkompetenzen, wie die Fähigkeit zu interpretieren, vermitteln die Schulen immer unzureichender. Dabei ist die Fähigkeit, einen Text darauf zu lesen, in welcher Weise er über sich selbst hinaus verweist und sich auf das reale Leben bezieht, unverzichtbar bei der Deutung der realen Welt mit ihren vielen Zeichen der Krisen und Konflikte. Die Lösung dafür ist, dass man die traditionelle Lesekultur wiederbeleben muss. Es kann nicht sein, dass immer mehr Abiturienten kein Buch gelesen haben und darauf auch noch stolz sind. Denn Lesen sei schwul. Darüber hinaus muss man mit der Jugend sprechen. Nicht nur über TikTok, sondern vor allem außerhalb von TikTok. Denn wenn wir davon ausgehen, dass die Jugend in ihrem Potenzial nicht dümmer ist als vor 30 oder 40 Jahren, sondern in der Masse nur schlechter ausgebildet ist, ist die Jugend nach meinen Erfahrungen aus 30 Jahren Jugendbildungsarbeit sehr wohl empfänglich für das bessere Argument und für Komplexitätserklärungen. Man muss sie nur liefern können. Man muss sie liefern können, um darüber die Jugend mit diesen Fähigkeiten wieder besser auszustatten. So wie die demokratischen Parteien glaubhafte Erklärungen dafür liefern müssen, wie sie das einstige Erfolgsversprechen zum Schutz der Demokratie wieder mit Leben füllen können.
Was wünschst Du Dir?
Ich wünsche mir, dass die etablierten Parteien endlich anfangen, sich zu reflektieren, und sich fragen: Was haben wir zur Bildung des Nährbodens beigetragen, aus dem der wuchernde Rechtsradikalismus erwachsen ist?
Dafür müssten sie den ökonomischen Neoliberalismus angehen. Dieser Neoliberalismus mit seiner Staatsfeindlichkeit und seiner Individualisierung hat die deutsche Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Angst gemacht. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft nach dem Soziologen Helmut Schelsky ist Geschichte. Darüber sind die Bibliotheken der Sozialwissenschaften vollgepackt mit Abhandlungen dazu wie zum Beispiel die von Heinz Bude. Die Umwandlung der Aufstiegsgesellschaft in eine Abstiegsgesellschaft, wie sie der Soziologe Oliver Nachtwey diagnostiziert, hat die Angst vor dem Wandel umso größer gemacht. Es besteht eine Angst davor, bei ungleicher Ressourcenverteilung verdrängt zu werden. Besonders in der Mittelschicht besteht die Angst vor Statusverlust, ja es gibt sogar Statuspanik, weil die Aufstiege in den Bereich der Besserverdienenden abgenommen und die Abstiege in den Bereich der Geringverdiener zugenommen haben.
Deshalb ist es kein Wunder, dass die AfD so erfolgreich ist, wenn sie sich als Bollwerk gegen diesen angstmachenden Wandel verkauft. Die etablierten Parteien sind dazu verpflichtet, um die Zivilgesellschaft nicht in dem Kampf gegen den Rechtsradikalismus allein zu lassen. Die Reflexion besteht ganz bestimmt nicht darin, dass die etablierten Parteien so werden wie die AfD, wie es der Flügel der CDU um Friedrich Merz und Carsten Linnemann gerade praktiziert.
Zum Glück gibt es eine gewichtige Strömung in der CDU um Hendrik Wüst, die das anders sieht. Nur gehört die CDU in Thüringen um Mario Voigt auch zu dieser Strömung, so dass im Ernstfall eine Koalition mit der AfD um den Faschisten Björn Höcke ausgeschlossen bleibt?