Kim Lisa Becker hat Soziologie und Psychologie in Jena sowie Migration und Diversität mit Schwerpunkt Türkei und Naher Osten in Kiel studiert. Von 2017 bis 2020 arbeitete sie bei der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. und war hier u.a. als Beraterin in der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus (PROvention) tätig, baute die Fach- und Informationsstelle zum Thema türkischer Ultranationalismus (Diyalog) auf und leitete die Fachstelle Liberi, die zum Thema Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien arbeitete. Zusätzlich zu einer Weiterbildung in systemischer Beratung und Coaching ist Kim Lisa Becker ausgebildete Insoweit erfahrene Fachkraft zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Sie ist stellv. Geschäftsführerin des IZRD e.V. (Interdisziplinäres Zentrum für Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung e.V.), arbeitete hier u.a. am kostenfrei zugänglichem Methodenlehrbuch „Extrem. Kompetent. Beraten.“ und leitet den Qualifizierungskurs zur Ausbildung von Weltanschauungs- und Extremismusbeauftragten (WelEx) in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe.
Kim, wie bist Du zum Thema Radikalisierung und Extremismus gekommen?
Mit einer Gewerkschaftlerin als Mutter bin ich schon früh mit auf Demonstrationen gegangen. Soziale Gerechtigkeit und der Einsatz für Menschen und Gerechtigkeit waren bei uns zentral. Zudem war mein Freundeskreis in der Grundschule divers geprägt und ich habe früh mitbekommen, dass Menschen nicht alle gleichbehandelt werden und es Diskriminierung und Ausgrenzung gibt. Damals war das einfach noch ein schwammiges Gefühl der Ungerechtigkeit, dass mich wütend und traurig gemacht hat, auch wenn ich selbst nicht direkt betroffen war.
Als Erwachsene wollte ich besser verstehen, wie Gesellschaften und Menschen dazu kommen, ein System zu erschaffen und aufrecht zu halten, das unfair ist, um daraus zu lernen, was man dagegen tun kann. Mit meinem Studium der Soziologie und Psychologie in Jena konnte ich dann zweierlei verbinden: Den Blick auf die Gesellschaft und den einzelnen Menschen. Im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts habe ich 2017 dann mit drei Kommiliton*innen eine Gruppendiskussion erhoben und ausgewertet, die die Auswirkungen von Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen muslimischer Männer auf ihre Identitätskonstruktion untersuchte (Hier zu finden: https://www.springerprofessional.de/identitaetsforschung-in-der-praxis/14958082). Die Ergebnisse waren für mich so spannend, dass ich anschließend mehr darüber wissen wollte, wie diese Erfahrungen dazu beitragen können, dass Menschen in radikale Denk- und Verhaltensweisen hineingeraten.
Als 2015 die „PEGIDA“-Demonstrationen und der Hass gegen geflüchtete Menschen in Deutschland aufflammten, war ich als Studentin mit einigen Freund*innen in Leipzig auf einer Anti-LEGIDA-Demo. Der Anblick der Menschenmenge einiger tausend Personen, die menschenfeindliche und rassistische Parolen grölten, war unglaublich erschreckend. Auf dem Rückweg kamen anschließend am Bahnhof einige offensichtlich der rechten Szene zugehörige Männer in einer großen Gruppe reingestürmt, als wir gerade auf dem Rückweg waren. Schnell entfernten wir alle Demo-Hinweise, um nicht als Gegendemonstrant*innen erkannt zu werden. Ich konnte das machen – andere Menschen können das nicht. Sie können nicht einfach ihre Hautfarbe oder ihr Kopftuch entfernen. Ich hatte in der Situation Angst und wurde von einem betrunkenen rechtsextremen Mann am Bahnhof bedrängt. Ich regierte gar nicht, um die Situation nicht eskalieren zu lassen und er ließ mich in Ruhe. Ich dachte hinterher nur daran, wie groß die Angst sein muss, wenn man sich in solch einer Situation nicht wie ich „verstecken“ kann und wie unfassbar falsch es ist, dass man es überhaupt muss. Ich habe die Situation noch so deutlich vor mir, weil es tatsächlich ein Schlüsselerlebnis für mich war und ich dachte: Dagegen will ich mich engagieren – wenn ich nicht direkt in der Situation reagieren kann, dann im Nachhinein, auf andere Art und Weise.
In meinem Studium belegte ich bei Matthias Quent dann ein Seminar zum Thema Radikalisierung und danach war für mich klar: Mit dem Thema will ich mich beruflich befassen. Während meines Masterstudiums in Kiel begann ich, in der Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus – PROvention zu arbeiten und vertiefte mein Wissen über Radikalisierungsprozesse in Wissenschaft und Praxis, vor allem mit einem Fokus auf den sogenannten Islamismus. Auf diesen Fokus kam ich letztlich über die Beschäftigung mit der Frage, wie Radikalisierungsprozesse mit Rassismus und Diskriminierungserfahrungen zusammenhängen können. 2021 zog ich nach Berlin und 2022 gründete ich gemeinsam mit zehn weiteren Personen das IZRD, um unter eignem Dach zu Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung zu arbeiten.
Was hat dich und deine Kolleg*innen dazu motiviert, das IZRD zu gründen?
Mit dem IZRD wollten wir einen Träger schaffen, der sich interdisziplinär ausgerichtet gegen verschiedene Formen von Radikalisierung, Extremismus, Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewalt und für Demokratieförderung einsetzt. Die unterschiedlichen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewalt sind zwar wesensverwandt und haben gemeinsame Kernmerkmale, aber die machtpolitische Verortung in der Gesellschaft, die Regeln, wer mitmachen darf und wer nicht, welche biografischen Erfahrungen das eine oder das andere primär beeinflussen – unterscheiden sich in Teilen auch erheblich. Wir brauchen deshalb eine interdisziplinäre Brille, um beides unter einem Dach oder innerhalb der Projektarbeit qua Haltung und Arbeitsauftrag zu vertreten und zu vermitteln. Anders als es extremistische Szenen und Ideologien tun – nämlich die Weltsicht zu vereinfachen – stellen wir uns damit der Komplexität solcher Prozesse und wollen selbst mehr darüber in Erfahrung bringen, aufklären und Handlungssicherheit im Umgang vermitteln.
Auch die Verknüpfung dieses Arbeitsfeldes zu anderen sehr relevanten Arbeitsfeldern wie bspw. dem Kinder- und Jugendschutz, ist uns dabei sehr wichtig. Aktuell haben wir uns vorgenommen, Weltanschauungs- und Extremismusbeauftragte (kurz: WelEx) in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe auszubilden und in der strukturellen Verankerung zu unterstützen, um eine neue Schnittstelle in den Jugendämtern zu implementieren (https://www.izrd.de/projekte-2/weiterbildungskurs-weltanschauungs-und-extremismusbeauftragte-welex.html). Denn Radikalisierung und Extremismus können auch erhebliche Folgen für das Kindeswohl haben – wenn Jugendliche sich radikalisieren oder auch Eltern ihre Kinder ideologisch erziehen. Viele Fachkräfte sind in solchen Falllagen überfordert und wissen nicht, wie sie Einschätzungen vornehmen können und welche Hilfe- und Unterstützungsangebote sie wahrnehmen können.
Wir wollen sichtbarer machen, wie stark Radikalisierungsprozesse und Extremismus in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Bereichen wirken können, und gleichermaßen dabei unterstützen, wie wir in diesen Bereichen jeweils professionell ansetzen können, um präventiv wie intervenierend zu agieren.
Mit Gründung des IZRDs hatten wir die Möglichkeit, diese Ausrichtung selbst zu bestimmen und darüber hinaus moderne und faire Arbeitsbedingungen und die interdisziplinäre Teamarbeit in den Fokus zu stellen. Uns ist es wichtig, dass alle Mitarbeitenden sich kontinuierlich fortbilden und im Team voneinander lernen. Wir setzen auf langfristige Wirkungen und wollen etwas bewegen – das motiviert uns und unser Team.
Auf welchen Bereich hast du dich spezialisiert?
Ich denke, dass das Spezialisieren nie wirklich endet, sondern ein lebenslanger Prozess ist. Seit ich mich mit Radikalisierung und Extremismus befasse, lerne ich kontinuierlich in zwei Kernbereichen dazu: Radikalisierungsprozesse als solche besser einordnen und verstehen zu können und Wege, mit dem Phänomen umzugehen. Meiner Ansicht nach ist das Thema dabei so komplex, vielschichtig und dynamisch, dass das ein stetiges Dazulernen im Arbeitsfeld voraussetzt. Das macht es aber auch so spannend und abwechslungsreich.
Ich selbst habe mich u.a. in systemischer Beratung und Coaching weitergebildet und bin ausgebildete Kinderschutzfachkraft nach § 8a SGB VIII. Meine Schwerpunkte in den letzten Jahren lagen also vor allem in der Verknüpfung von Kinderschutz und Kindeswohlgefährdungsfragen mit Radikalisierung und Extremismus sowie in der methodisch ausgerichteten Beratungsarbeit zum Themenfeld. Hier durfte ich 2024 gemeinsam mit Kolleg*innen ein umfangreiches Methodenlehrbuch veröffentlichen, an dem wir drei Jahre gearbeitet haben (https://www.izrd.de/izrd-projekte/methodenlehrbuch-beratung.html). Das Buch gibt Einblick in verschiedene Beratungsansätze und leitet durch spezifische Methoden und Themen, denen Beratende im Themenfeld religiös begründeter Extremismus begegnen. Es soll die beraterische Praxis direkt unterstützen und Ideen und Anleitungen zur methodischen Arbeit liefern.
Besonders kenne ich mich im Bereich des sogenannten Islamismus aus. Mit der Beratungsstelle veritas kam der Bereich der Verschwörungserzählungen in den letzten Jahren hinzu und aktuell arbeiten wir zunehmend auch übergreifend zu Radikalisierung und Extremismus im Kontext von Kinderschutz. Dass der Blick sich bei mir immer mehr weitet, bietet mir die Chance, Transfer und Verknüpfungen herzustellen, aber auch Unterschiede klarer zu ziehen.
Wie ist Radikalisierung definiert und welche Phasen durchlaufen Radikalisierungsprozesse typischerweise?
Der Begriff ist zurückzuführen auf den lateinischen Begriff „radix“, was Wurzel bedeutet. Das heißt, Menschen wollen das Gesellschaftssystem an der Wurzel, also in seinen Grundpfeilern, verändern. Was jedoch radikal ist, entscheidend stets eine Gesellschaft im aktuellen Kontext. Das, was heute radikal ist, kann in der Zukunft also zur geteilten Norm gehören. Denken wir beispielsweise zurück an Frauen, die sich für Frauenrechte wie das Wahlrecht eingesetzt haben. Radikal sein muss also per se nicht problematisch sein und hat innerhalb der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung seinen legitimen und wichtigen Platz und Spielraum.
Was wir in unserer Arbeit fokussieren, ist Radikalisierung im Sinne eines Prozesses. Spitzen sich Radikalisierungsverläufe zu, haben wir es in unserer Arbeit mit verschiedenen Formen Gruppenbezogener Menscheinfeindlichkeit und Gewalt zu tun – das kann bis in den Extremismus münden, also radikale Ausdeutungen, die (sicherheitspolitisch verortet) außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung liegen. Deshalb wird unser Arbeitsfeld auch von vielen als „Extremismusprävention“ bezeichnet. Der entscheidende Faktor für uns als Zivilgesellschaft sind jedoch vor allem der Leidensdruck und die Konflikte, die sich aus Radikalisierungen ergeben – sowohl für Menschen, die durch radikale oder extremistische Ideologien und Anhänger*innen bedroht werden, als auch für das Umfeld von sich Radikalisierenden und auch Menschen selbst, die in Radikalisierungsprozesse geraten und sich wünschen, Begleitung in oft schwierigen Distanzierungsprozessen zu erhalten. Der Gradmesser für uns sind also die Störungen im System – bearbeiten wir diese, wirken wir in der Regel auch immer auf Deradikalisierung oder Distanzierung hin.
Die große Herausforderung in diesem Arbeitsfeld besteht darin, dass Radikalisierungsverläufe in der Regel nicht linear verlaufen, nicht immer in einfache Modelle hineinpassen und die Übergänge von legitimen über grenzwertige bis hin zu stark problematischen Ansichten oder Verhaltensweisen mitunter fließend sein können. Außerdem haben wir es mit Menschen zu tun, d.h. Einstellungen und Verhaltensweisen können sich je nach Kontext und Erleben ändern, rückläufige Entwicklungen, sprunghafte Veränderungen sind ebenso möglich wie eine kontinuierliche Steigerung radikaler Ansichten.
Viel hilfreicher als Radikalisierungs-Verlaufs-Modelle finde ich in der Praxis deshalb den Blick auf die relevanten Push- und Pull-Faktoren zu legen – also die Beweggründe und Anziehungskräfte, die für Menschen eine zentrale Rolle spielen, sich zu radikalisieren. Fokussieren wir darauf, verstehen wir wesentlich besser, warum Menschen sich radikalisieren und können darüber auch Brücken bauen, wieder in einen konstruktiven Kontakt zu kommen, Vertrauen aufzubauen, Verbindungen zu stärken und die Bedürfnisse anders zu befriedigen, als über radikale oder extremistische Angebote. Auf diese Weise können wir auch individuellen Einzelfällen gerecht werden und vermeiden Pauschalisierungen oder gar Stigmatisierungen.
Welche sozialen, politischen und psychologischen Faktoren tragen deiner Meinung nach am meisten zu Radikalisierungsprozessen bei?
Schauen wir auf struktureller Ebene der Gesellschaft sind es vor allem die Machtverhältnisse, die den Rahmen bestimmen. Wir müssen uns also fragen: Wer ist bspw. von sozialer Ungleichheit in welcher Form betroffen und wer hat die Macht und das Privileg, davon nicht betroffen zu sein oder auch zu profitieren? Intersektionalität spielt dabei eine wichtige Rolle – also die Verknüpfung verschiedener Kategorisierungen wie bspw. soziale Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung und chronische Erkrankungen oder Rassismus. Das müssen wir kritisch in den Blick nehmen und strukturelle Bedingungen schaffen, bestehende Ungleichheiten zu reduzieren. Dazu gehört auch, Privilegien zu teilen, abzugeben und sich selbst kritisch in den Blick zu nehmen. Ohne die Strukturen anzuvisieren und auch der Politik zu vermitteln, wie solche strukturellen Ungleichheitsverhältnisse Radikalisierungen begünstigen, geht es nicht.
Ideologien kommen außerdem nicht ohne die Konstruktionen vermeintlicher Gruppen, Zugehörigkeiten und Feindbilder aus. Das impliziert immer auch Gruppendynamiken. Auch deshalb spielen die Systeme, in die ein Mensch jeweils eingebunden ist, eine zentrale Rolle – z.B. das Familiensystem, das Arbeitssystem, die Religionsgemeinschaft etc. Wir betrachten ein Individuum – zum Beispiel eine Person, die sich radikalisiert – also immer auch im Kontext ihres Umfelds. Radikalisierung erfüllt immer eine Funktion im System, die es zu ergründen gilt, wenn wir sie verstehen und an Veränderung arbeiten wollen.
Natürlich spielen auch biografische Erfahrungen eine wichtige Rolle, um psychodynamische Prozesse aufzuarbeiten und Veränderungen anzustoßen – das passiert dann vor allem in der Beratung.
Welche Rolle spielen Verschwörungstheorien in der Radikalisierung und wie kann man ihnen entgegenwirken?
Verschwörungstheorien oder auch Verschwörungserzählungen finden sich in nahezu allen extremistischen Ideologien wieder.
Sie spielen eine besondere Rolle im Rechtsextremismus, in den verschiedenen Formen von religiös begründetem Extremismus und wirken auch in diversen destruktiven Bewegungen und Kulten und darüber hinaus. Sie können Radikalisierungsprozesse begünstigen, verstärken und beschleunigen und haben deshalb eine Schlüsselrolle innerhalb der Radikalisierungs- und Extremismusprävention.
Die Idee, die Beratungsstelle veritas – für Betroffene von Verschwörungserzählungen – (https://www.veritas-berlin.de/) zu gründen, hatten wir auch, weil viele Menschen in ihrem Umfeld im Kontext der Corona-Pandemie Personen erlebt haben, die solche Erzählungen teilen, in Konflikt mit der Familie, dem Kollegium und anderen geraten und das Umfeld oft das Gefühl hat, mit Fakten einfach nicht weiter zu kommen und die Fronten durch das „Kontern mit Fakten“ oft eher noch zu verhärten. Das macht ohnmächtig – ein Gefühl übrigens, das viele Verschwörungsgläubige auch erleben und genau das mit dem Glauben an solche Erzählungen zu kompensieren versuchen. Denn durch die Erzählungen werden vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Fragen und Herausforderungen angeboten, klare Identitäten und Feindbilder geschaffen, vermeintliche Erklärungen für Zusammenhänge geliefert, Sündenböcke identifiziert und oft auch ein Auftrag generiert: z.B. Aufklären und Gegensteuern. Das spiegelt sich u.a. in der Verbreitung von Hass und Hetze im Online-Raum wider, aber auch in der Anfeindung von Personen im Offline-Raum. Nicht immer docken solche Erzählungen dabei an politisch-radikale Ideologien an. Im Kontext der Corona-Pandemie gab es etliche Erzählungen, die erst einmal losgelöst schienen. Die Mehrheit beinhaltet jedoch einen antesemitischen Kern, weshalb der Prävention von Verschwörungserzählungen gerade in Deutschland eine tragende Bedeutung zukommt.
Unser Ziel ist es, zur besonderen Wirkmacht oder zum Wesen von Verschwörungserzählungen aufzuklären und daraus sowie aus unseren Erfahrungen aus der Beratungsarbeit heraus Handlungsempfehlungen zu geben, um Konflikten und Gewalt vorzubeugen oder entgegenzuwirken. Das funktioniert besonders gut, wenn die dahinter liegenden Bedürfnisse und Gefühle in den Mittelpunkt gerückt werden und Personen über eine andere als die nicht geteilte Fakten-Ebene ins Gespräch kommen. Denn auch wenn ich kein Verständnis für eine bestimmte Verschwörungserzählung oder ein daran geknüpftes Feindbild habe und hier klare Grenzen in meiner eigenen Haltung setze, kann ich gleichzeitig Verständnis dafür haben, welche Erfahrungen und Gefühle mein Gegenüber prägen, solche Erzählungen zu verinnerlichen oder zu teilen. Komme ich hierüber in ein Gespräch, kann ich eine Verbindung herstellen und auf dieser Grundlage oft überhaupt erst auch kritisch zu Einstellungen und Verhaltensweisen ins Gespräch kommen. Ohne die Verbindung wird es nicht funktionieren. Das ist der Kern unserer Beratungsarbeit.
Welche Rolle spielen Geschlechterideologien in Radikalisierungsprozessen?
Die Rolle, die die Konstruktion von Geschlechterrollen-Bildern in Kontext von Radikalisierung und Extremismus einnehmen, wird oft noch stark unterschätzt und sollte meines Erachtens nach noch viel stärker in der Präventionsarbeit in Deutschland Berücksichtigung finden, als es bisher der Fall ist. Denn sie spielen eine immense Rolle in verschiedenen Bewegungen. Sie sind entscheidend, sowohl in Bezug auf die Push-Faktoren (also die Beweggründe, basierend auf gemachten Erfahrungen) als auch in Bezug auf die Pull-Faktoren (also die Anziehungskraft und Angebote einer extremistischen Ideologie oder Bewegung). Außerdem existieren auch Bewegungen, die sogar ihren ganz spezifischen Fokus auf Antifeminismus, Frauenfeindlichkeit und Frauenhass legen – bspw. die Gruppe der sogenannten „INCEL“. Dieser Fokus auf Geschlecht ist für uns in der Arbeit also zentral und Präventionsarbeit sollte daher auch gender-sensibel ausgerichtet sein.
Zwei Perspektiven sind hierbei für mich entscheidend. Erstens machen Menschen – je nach Geschlecht – unterschiedliche Erfahrungen in der Gesellschaft, die erheblich mitbestimmen, weshalb Personen in Radikalisierungsprozesse kommen. Diese gender-spezifischen Erfahrungen müssen immer vor dem Hintergrund gesellschaftlich bestehender Rollenvorstellungen und daran geknüpfter Erwartungen gesehen werden, denn diese geben ja den Rahmen vor, zu dem Menschen sich verhalten müssen – ob sie wollen, oder nicht. Wenn z.B. für eine Frau sexuelle Anfeindungen und Übergriffs-Erfahrungen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sie durch eine Vollverschleierung des Körpers im Kontext einer islamistischen Radikalisierung versucht, Schutz zu erhalten, dann ist das wichtig, um den Prozess ihres Lebensweges besser nachzuvollziehen und passende Beratung in der Distanzierungs- oder Ausstiegsberatung anbieten zu können. Das zu ergründen und bewusst mit einzubeziehen ist genauso wichtig, wie sich anzuschauen, welche Geschlechterrollen-Bilder extremistische Ideologien oder Szenen anbieten und warum diese vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen für Personen anziehend und attraktiv sein können.
Zentral in unserer Arbeit ist dann vor allem auch die Erfahrung, dass die postulierten Versprechungen von Ideologie und Szene zu den Rollen in der Regel der Realität nicht standhalten und Personen oft enttäuscht werden, wenn sie merken: Das, was hier propagiert wird, wird nicht wirklich gelebt und kann nicht gehalten werden. An solchen erlebten Widersprüchen können wir dann ansetzen und ein Hinterfragen und Aufbrechen radikalisierter bzw. extremistischer Überzeugungen und Verhaltensweisen anregen.
Präventiv ist es hilfreich, wenn selbstbestimmte Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Rollenvorstellungen der Gesellschaft und eignen Vorstellungen angeleitet und begleitet werden, damit u.a. auch junge Menschen neue und eigene bspw. Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder entwickeln können, die mit patriarchalen Versprechungen brechen und Widersprüche auflösen. Solche Ansätze sind empowernd und können Radikalisierung vorbeugen und entgegenwirken.
Welche Anzeichen und Verhaltensweisen deuten darauf hin, dass jemand in einen Radikalisierungsprozess involviert sein könnte?
Weil Radikalisierungsverläufe so komplex sind, gibt es keine Checklisten, sondern mittlerweile glücklicherweise bundesweit diverse Fach- und Beratungsstellen, wie bspw. veritas zum Thema Verschwörungserzählungen beim IZRD, die weiterhelfen und Erfahrung und Fachwissen bündeln.
Es ist immer sinnvoll, nachzufragen und zuzuhören, wenn der Verdacht auf Radikalisierung besteht. Oft sind es Veränderungen einzelner Personen, die dem Umfeld auffallen. Das können menschenfeindliche Aussagen gegenüber bestimmten Gruppen sein oder Verhaltensweisen wie stark missionierendes Verhalten, die Überzeugung, lediglich die eigene „Wahrheit“ der (neuen) Weltsicht sei korrekt und alles andere zu verurteilen oder zu bekämpfen und so weiter. All das können Hinweise auf Radikalisierungsprozesse sein. Hilfe und Unterstützung sollte in jedem Fall gesucht werden, wenn die Sorge im Raum steht, dass die Person, um die es geht, ggf. andere (z.B. auch die eigenen Kinder) oder sich selbst durch die Überzeugungen gefährdet oder gefährden könnte. Aber auch schon vorher können Menschen Hilfe und Unterstützung im Umgang bei Beratungsstellen suchen: Je früher interveniert werden kann, desto einfacher und besser funktioniert dies in der Regel.
Welche Maßnahmen können Angehörige und wir als Gesellschaft ergreifen, um Radikalisierung präventiv zu verhindern oder zu intervenieren?
Mit Angehörigen und Multiplikator*innen arbeiten wir in der Regel erst einmal daran, sich selbst in den Blick zu nehmen. Denn nur wenn ich selbst weiß, welche eigene Ziele ich mir setze, wo meine Grenzen liegen und wie ich sie wahren kann und mir zum Beispiel auch Auszeiten von anstrengenden Gesprächen ermögliche, kann ich eine Grundlage schaffen, auf der ich auch konstruktiv mit verschwörungsgläubigen oder anderweitig (mutmaßlich) radikalisierten Personen in eine zugewandt-kritische Kommunikation gehen kann. Auch das Setting ist wichtig. Denn es macht natürlich einen Unterschied, ob es um Familienangehörige, Arbeitskolleg*innen oder flüchtige Bekannte geht, die ich ggf. nur einmal auf einer Veranstaltung oder privaten Feier beim Flurgespräch treffe.
Erst im zweiten Schritt gibt es dann eine ganze Reihe von Haltungs- und Handlungsempfehlungen, die wir auf unserer Website (www.veritas-berlin.de) auch nochmal gebündelt vorstellen. Es gibt es eine ganze Reihe von (Kommunikations-) Tipps wie beispielsweise ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen, die Würde des Gegenübers zu wahren, in Ich-Botschaften zu sprechen, anstatt anklagende Formulierungen zu wählen und eher über Bedürfnisse und Gefühle zu sprechen anstatt über „Fakten“ usw.
Ganz grundlegend hilft mir persönlich folgende Haltung: Auch wenn ich die Aussagen, Ansichten und Verhaltensweisen meines Gegenübers nicht in Ordnung finde und mich von diesen abgrenze, kann ich gleichzeitig die Gefühle und Bedürfnisse, die dahinterstecken, ernst nehmen und anerkennen. Komme ich darüber in ein vertrauensvolles Gespräch und bin dabei authentisch, weil ich diese Haltung verinnerlicht habe, kann ich eine Basis herstellen, auf deren Grundlage ich auch kritische Rückmeldungen geben kann und ein Hinterfragen beim Gegenüber anregen kann.
Aus der Erfahrung heraus zeigt sich bei uns ganz oft: am Ball bleiben lohnt sich. Auch wenn jmd. ein Gespräch erstmal ausschlägt, kann es immer sein, dass etwas passiert, das die Situation ändert. Mache ich wiederholt ein Beziehungs- oder Gesprächsangebot, kann das Vertrauen erzeugen, dass ich ein wirkliches Interesse am Gegenüber habe und diese Person nimmt das Gesprächsangebot vielleicht dann an, wenn dann doch irgendwann Zweifel aufkommen.
Was die Gesellschaft – und besonders die Politik – tun kann, bezieht sich vor allem auf strukturelle Rahmenbedingungen. Wenn wir uns anschauen, wo Radikalisierungen begründet liegen, muss es präventiv vor allem um den Abbau von Ungleichheiten gehen. Aber auch staatlich finanzierte Projekte, die die Zivilgesellschaft zur Prävention umsetzt, müssen langfristig und sicher finanziert sein. Oft haben wir es mit kurzen Förderlaufzeiten – zum Beispiel von einem Jahr – zu tun, die das Arbeiten in diesem Feld strukturell unsicher und für Arbeitnehmer*innen unattraktiv machen können, weil daran befristete Arbeitsverträge und unsichere Förderperspektiven gekoppelt sind. Das ist ein Widerspruch, denn wir wissen: Prävention, z.B. in Form von Beratungsarbeit, benötigt Zeit, weil Distanzierungsarbeit ebenso wie Radikalisierung ein Prozess ist, der oft auch länger begleitet werden muss. Wenn ich einen Beratungsfall betreue und nicht sicher weiß, ob ich diesen im Folgejahr noch als Projekt und Mitarbeiter*in weiterhin begleiten kann, ist das eine schlechte Grundvoraussetzung für meine Arbeit und den Entwicklungsprozess meine*r Klient*in. Wir brauchen daher unbedingt langfristige und sichere Förderungen über mehrere Jahre hinweg, um Planungssicherheit und qualitativ hochwertige Arbeit flächendeckend vorantreiben zu können.
Und alle, die Lust haben, sich persönlich zu engagieren empfehle ich, zivilgesellschaftliche Projekte und Träger zu unterstützen – zum Beispiel durch Spenden, ehrenamtliche Mitarbeit oder die Mitgliedschaft in Vereinen, die zum Thema arbeiten. Wir freuen uns immer über Support!
Wo siehst Du Deinen Fokus und den Fokus des IZRD in den kommenden Jahren?
Als IZRD wollen wir in den nächsten Jahren auf unterschiedlichen Ebenen weiterhin aktiv sein, um Radikalisierung und Extremismus, Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewalt möglichst ganzheitlich präventiv zu begegnen und dadurch mehr Wirksamkeit zu generieren. Ich würde das in vier Bereiche aufteilen:
Wir wollen erstens weiterhin über Beratung sowohl Angehörige im Umgang als auch (mutmaßlich) von Radikalisierung selbst Betroffene Personen unterstützen und in Distanzierungs- und Ausstiegsprozessen professionell begleiten. Hierzu bündeln wir v.a. methodische Ansätze der systemischen und der gestalttherapeutischen Beratung in unserem Team und arbeiten methodisch integrativ, um verschiedenen Herausforderungen und Klient*innen gerecht werden zu können. Das heißt auch, dass wir für unser interdisziplinäres Team immer mal wieder nach Verstärkung Ausschau halten. Wer sich zu unserer methodischen Ausrichtung genauer informieren möchte, ist herzlich eingeladen, in unser 2024 herausgegebenes „Methodenlehrbuch“ für die Beratungspraxis im Themenfeld religiös begründeter Extremismus reinzulesen.
Zweitens ist auch die Weiterbildung von Fachkräften und Multiplikator*innen für unsere Arbeit entscheidend, um in der Breite fürs Thema zu sensibilisieren und mehr Handlungssicherheit im Umgang zu ermöglichen. Hier setzen wir bereits jetzt darauf, auch phänomen-übergreifende Angebote anzubieten und umzusetzen, die zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden verschiedener Herausforderungen aufklären. Denn egal ob in Schule, Jugendclub oder der Fallarbeit im Jugendamt: Fachkräfte begegnen hier ganz verschiedenen Formen von Radikalisierung und brauchen Handwerkszeug, um grundsätzlich sensibilisiert und handlungssicher zu sein – egal ob Rechtsextremismus, Verschwörungserzählungen, Formen des religiös begründeten Extremismus oder anderer antidemokratischer Weltanschauungen. Einen so großen Wissensfundus kann kaum eine Person in sich vereinen, weshalb wir auf interdisziplinäre und enge Zusammenarbeit im Team setzen. Darum haben wir uns unseren Namen gegeben.
Hinzu kommt drittens die enge Kopplung zur Wissenschaft. Durch begleitende Fachbeiräte und Praxispartnerschaften in wissenschaftlichen Projekten wollen wir den Austausch von Wissenschaft und Praxis kontinuierlich vorantreiben und in unsere Arbeit integrieren. Das soll auch künftig einen elementaren Anteil unserer Arbeit ausmachen und Praxis und Forschung bereichern.
Und als vierten Punkt ist es uns wichtig, dazu beizutragen, das Arbeitsfeld auch strukturell besser miteinander zu vernetzen. Die Radikalisierungsprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – daraus folgt, dass verschiedene Arbeits- und Handlungsfelder strukturell gut zusammenarbeiten müssen, um effektiv wirken zu können. Die Präventionsarbeit der Zivilgesellschaft und Behörden muss ihre Netzwerke untereinander, aber auch zu relevanten Schnittstellen, zum Beispiel zur Kinder- und Jugendhilfe, zu Gesundheits- und Heilberufen, zur Wissenschaft und Bildung etc. weiter ausbauen und verfestigen. Dabei wollen wir unterstützen und greifen dabei auf bereits positive Netzwerk-Erfahrungen zurück. Wir koordinieren bspw. seit Bestehen das Bundesnetzwerk Verschwörungserzählungen, dem aktuell 20 Institutionen angehörigen, die sich in Prävention und Beratung zum Thema engagieren.
In der inhaltlichen Arbeit liegt mein eigener Schwerpunkt derzeit in der Verknüpfung von Radikalisierungsprävention und Kinderschutz. Ich glaube, dass wir hier erst am Anfang stehen und es sowohl Forschung, Vernetzung als auch mehr Beratung und die Anpassung von Schutzkonzepten braucht, damit diese auch Aspekte der Radikalisierungsprävention mitbedenken. Kinder gehörigen zu denjenigen Menschen der Gesellschaft, die sich aufgrund ihrer Position mit am wenigsten Gehör verschaffen können und – wenn sie bspw. in extremistischen Kontexten aufwachsen – unglaublich schwierigen Bedingungen unterworfen sind, die sie langfristig prägen können. Einschätzungen hierzu und die Förderung von Schutzfaktoren und Resilienz ist mir deshalb besonders wichtig und fester Bestandteil unserer Projektarbeit.
Was wünscht Du Dir in Bezug auf Dein Thema und die Arbeit des IZRD?
Ich wünsche mir, dass wir als IZRD innovativ bleiben und unsere interdisziplinäre Arbeit im Team weiter ausbauen können, damit wir uns kontinuierlich weiterentwickeln. Ich bin überzeugt, dass wir wirksam arbeiten und wünsche mir, dass wir das Arbeitsfeld weiterhin prägen und unseren Teil zur Weiterentwicklung beitragen. Unser übergeordnetes Ziel ist es letztlich, einen kleinen Teil dazu beizutragen, die Gesellschaft fairer zu gestalten und ein friedliches und solidarisches Miteinander zu fördern. Diesen Auftrag wünsche ich mir, immer im Auge zu behalten – auch in stressigen und finanziell unsicheren Zeiten.
Für das IZRD selbst und alle Mitarbeitenden wünsche ich mir sicherere Grundbedingungen und langfristigere Förderungen der Projektarbeit. Wir haben unglaubliche tolle, engagierte und gut ausgebildete Mitarbeitende im Team, die es verdienen, dass ihre Arbeit auch strukturell mehr gewürdigt wird. Dafür brauchen wir sichere und langfristigere Förderbedingungen und beschleunigte Verwaltungsprozesse in den Förderbehörden, damit wir unserem Kernauftrag so gut wie möglich in der eignen Arbeit nachkommen können.
Kontakt zur Beratungsstelle veritas für Betroffene von Verschwörungserzählungen – veritas unterstützt das Umfeld von verschwörungsgläubigen Menschen:
Mail: kontakt@veritas-berlin.de
Telefon 030 83 54 30 72